Rückblick – Menschenbetrachtung

Mit Aug‘ und Ohr den Menschen wahrnehmen

9. und 10. April 2021 in Tübingen

So lautete der Titel unseres Seminars mit Alexander Schaumann für Förderlehrer*innen im April dieses verrückten Corona-Jahres. Weil das Seminar schon im Vorfeld verschoben werden musste, waren wir alle angespannt und gleichzeitig sehr dankbar, dass es uns doch noch ermöglicht wurde, diese Präsenzveranstaltung zu erleben.

Schon das Umfeld war ein anderes als die gewohnte Schulumgebung – wir waren im Rudolf-Steiner-Haus in Tübingen zu Gast und empfanden diese Räumlichkeiten als sehr stimmig für uns und unser Thema.

„Wir nehmen uns Zeit!“ – einer der ersten Sätze des Dozenten. Denn nach wenigen Minuten sind alle Fragen abgearbeitet. Um unsere Aufmerksamkeit länger halten zu können, müssen wir also neue Fragen finden. Und die sich ergebende Schwierigkeit, das Wahrgenommene in Worte zu fassen, wirft wiederum neue Fragen auf. „Was fällt mir auf“ – da kann ich zugreifen.

Unter dieser Aufgabenstellung lenkten wir unsere Beobachtungen auf den Gang zweier Menschen. Hier hat man nun einen Vergleich, was die Beschreibung einfacher macht. Wie wird – der gleiche – Boden unter den Füßen von den beiden unterschiedlichen Menschen ergriffen? Wo liegt das Kraftzentrum, wo wird die Bewegung gesteuert? Was macht es aus, dass die Menschen in diesem Setting ohne ein konkretes Ziel unterwegs sind?

Wir betrachten, wie sich ein Mensch zwischen Himmel und Erde stellt – am Beispiel des Gehens.

Derart aufgewärmt, wandten wir unsere Aufmerksamkeit dem Blick eines Modells zu. Eine ungleich spannendere Aufgabe, galt es doch, die Wahrnehmung in vorsichtig tastende Worte zu fassen. Wie kommt der Blick zu uns? Wie kann eine Beschreibung gefunden werden, ohne ins Urteilen zu fallen?

 

Durch die äußeren Gegebenheiten vorgegeben begannen wir am Samstag morgen mit der Betrachtung einer Teilnehmerin mit der zur Zeit vorgeschriebenen Maske: Was sehen wir? Was nehmen wir wahr? Wie wird der Blick gelenkt, wenn ein großer Anteil des Gesichts nicht zu sehen ist? Was schaut uns entgegen? Wie wird ein Lächeln, Neugier oder eine andere Regung wahrgenommen und interpretiert?

Der Bezug zum Herzen, zur Atmung, zum Körper entzieht sich durch die Maske. Wodurch nehmen wir dennoch ein Strahlen, Wärme wahr? Der Blick wird zur Stirn geleitet, zu den Haaren, dem Haaransatz, er führt ins Geistige – wo ist nun die Individualität? Das ICH?

„Jedes Urteil ist ein Stein auf dem Weg in die geistige Welt!“ (Schaumann). Dagegen steht, was wir durch die urteilsfreie Betrachtung üben wollen, wie Steiner es formuliert: „Das reine Anschauen, das ist dasjenige, was Goethe gesucht haben will. Und den Verstand wollte er nur dazu benützt haben, um die Phänomene so zusammenzustellen, daß sie selbst ihre Geheimnisse aussprechen.“ (Rudolf Steiner, GA 180)

In diesem Sinne versuchten wir unseren Verstand einzusetzen, uns vor dem Urteilen zu hüten und somit feine Wahrnehmungen mitzuteilen. Wir spürten deutlich das eingangs Gesagte: Die Seele braucht Zeit! Wir kommen zur Ruhe, der Eindruck erreicht uns, im Innersten.

Eine kleine Einheit zum Portrait in der Kunstgeschichte von dem Kunstkenner und Künstler Schaumann zur Auflockerung bereitete uns auf die letzte Aufgabe vor: Das Ohr sollte eine Stimme aufnehmen und die Verbindung der gesprochenen Sprache zur Körperhaltung, Spannung, Bewegung, Gestik erforschen und gleichzeitig ein Vokabular für den Stimmklang, die Klangfarben und die Benützung der Sprachwerkzeuge gefunden werden. Soviel sei gesagt: In der Stimme zeigt sich etwas Seelisches, sie lädt zum Mitschwingen ein, das Herz hört mit!

Hier tat sich zum Abschluss eines sehr tief gehenden Seminars ein neues Aufgabenfeld auf, das vielleicht – hoffentlich – in einer weiteren Einheit zur Menschenbetrachtung im nächsten Jahr näher ergründet werden kann.

Barbara Limbach