LEIBERGREIFEND – Förderunterricht auf menschenkundlicher Grundlage

von Beate Schram

In der Begegnung mit Schulkindern in der täglichen pädagogischen Arbeit kommt man nicht umhin, neben der Vielfalt seelischer Ausprägungen eine besondere Wachheit und Intensität wahrzunehmen. Oft fast erschreckend reif , kraftvoll, sich verströmend; aber auch feinfühlig, abwartend, tiefgründig treten sie uns entgegen. Ihre Frage an uns scheint zu sein: wer bist Du? Und: kannst Du mir Begleiter sein auf meinem Weg?

Ich werde wohl lange die Begegnung mit einem Erstklässler nicht vergessen, der mir, kurz nach seiner Einschulung, auf dem leeren Flur unserer Schule entgegenkam und mich fragte: „Was machst Du eigentlich hier?“ Die Eindringlichkeit seiner Frage ließ mich noch lange auf ganz existenzielle Weise mit der Antwort umgehen.

Da gibt es also einen Reichtum im Geistig-Seelischen, eine Größe und Weite, die möglicherweise durch zivilisatorische Einflüsse oder manch leidvolle Erfahrung früh geweckt wurde und dabei oftmals einen Leib vorfindet, der dafür nur bedingt ein entsprechendes Gefäß bilden kann.

Denn im Körperlichen begegnen uns selbst die gesunden, als schulreif geltenden Kinder einer Waldorfschule oftmals durchsichtig, hüllenlos, teilweise ungelenk, verkrampft und mit ihrem Leib und seinem Bewegungsapparat ringend. Vom ersten Lebensaugenblick an wird dieser umkämpft, wird attackiert durch alles, was unser heutiges Leben zur Verfügung hat. Wenn wir Rudolf Steiner ernst nehmen mit seinem Hinweis auf das Kind als Sinnesorgan, dann wissen wir, dass es all diesen Einflüssen ohne eine Möglichkeit der Abgrenzung ausgesetzt ist und dass deren Auswirkungen beim kleinen Kind hauptsächlich im Leiblichen, im Muskelsystem sowie in der Organbildung, bleibende Spuren hinterlassen. Es entsteht der Eindruck, dass diese Leiblichkeit eine Ebene der Auseinandersetzung darstellt und dass es Kräfte gibt, die an ihrer Zerstörung interessiert sind.

Die eigentliche Aufgabe, im ersten Jahrsiebt Geistig-Seelisches mit dem ererbten Leib möglichst harmonisch zu verbinden, scheint dadurch erschwert.

Das Kind steht vor uns mit der Frage: Wie durchdringe ich meinen Leib? (1)
Als Waldorflehrer wissen wir, dass die von uns vertretene und praktizierte Pädagogik heilende Wirkungen in sich trägt. Stellvertretend für vieles seien hier nur die altersentsprechenden Inhalte, die Rhythmen im Schulalltag, die tiefe Verbindung zu Kunst und Religion genannt. Auch heute noch spüren wir deren harmonisierende Kraft und können erleben, wie Kinder sich daran stabilisieren und orientieren lernen.

Tatsache ist trotzdem, dass der Ruf nach inner- oder außerschulischer therapeutischer Unterstützung immer deutlicher wird.

In welcher Weise kann der/ die FörderlehrerIn dazu beitragen, die Situation der Kinder, die Hilfe brauchen, zu verbessern?

Auch wenn mir deutlich ist, dass die Vielzahl meiner KollegInnen mit nur wenigen Deputatsstunden zurechtkommen müssen, will ich versuchen eine Art Tätigkeitsprofil zu erstellen, um die Möglichkeiten einer sinnvollen, an der Menschenkunde orientierten Förderung aufzuzeigen. Dieses Profil ist durch meine Erfahrungen in Schule und Lerntherapiepraxis, durch meine Ausbildung und meine persönlichen Möglichkeiten geprägt und will keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben; vielmehr Anregung sein, über das vielfältige Potential der Förderpädagogik im Rahmen einer Waldorfschule nachzudenken.
Das Kernstück meiner förderpädagogischen Tätigkeit ist in den letzten Jahren die Zweitklassuntersuchung geworden. Entwickelt in den 1980er Jahren an holländischen Waldorfschulen ermöglicht sie dem Förderlehrer, ein sehr umfassendes Bild des einzelnen Kindes zu erstellen. Dabei ist der sensomotorische Status, der Blick auf die Entwicklung des Sinnes– und Bewegungsapparates, als Schwerpunkt zu sehen. Wichtig ist mir dabei geworden, jedes Kind der Klasse anzuschauen, nicht nur die „schwierigen“, denn auch manch „braves“ Kind, das nie auffällt, braucht u.U. Unterstützung und vor allem unsere Aufmerksamkeit.

Anschließend an die Untersuchung wird jedes Kind mit dem Klassenlehrer besprochen und zusätzlich mit den Eltern, falls Therapieempfehlungen ausgesprochen wurden. Die positive Wirkung solcher intensiven Gespräche auf das Kind ist immer wieder deutlich zu spüren. Aber auch das Vertrauensverhältnis zwischen Klassenlehrer und Förderlehrer kann hier gestärkt werden. Wenn dies gelingt, kann der Förderlehrer beratend dem Kollegen zur Seite stehen. Ob es um Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten geht, verschaffen oftmals kleine Maßnahmen wie eine Veränderung der Sitzposition oder auch des Sitzplatzes Erleichterung. Wenn ein Zappelphilipp in der Klasse den Lehrer an Nervengrenzen bringt, mag die Erklärung des Förderlehrers, warum dieses Kind sich auf Grund seiner Leiblichkeit nicht anders verhalten kann, für Entspannung sorgen. Übungen aus dem Förderbereich, die auch mit der ganzen Klasse durchgeführt werden können, werden oft dankbar entgegengenommen. Ebenso können didaktische Elemente aus dem Förderunterricht ergänzend im Klassenunterricht eingesetzt werden und Hilfen zur sinnvollen Differenzierung anbieten. So kann der Förderlehrer wahrnehmend und begleitend den Kindern und den Klassenlehrern zur Seite stehen und dabei der allzu starken Frage nach Einzelförderung entgegenwirken. Idealerweise steht er dabei im Kontakt mit den anderen Therapeuten der Schule.
Trotz dieser Unterstützung im Rahmen des Klassenunterrichtes wird auf die Zweitklassuntersuchung die Arbeit mit einzelnen Kindern folgen.

Für die Gestaltung dieser Einzelarbeit wurde in den vergangenen Jahren an den anthroposophisch orientierten Förderlehrerseminaren viel gute Arbeit geleistet. Besonders die Nachreifung der unteren Sinne und die Integration frühkindlicher Bewegungsmuster sind zum wichtigen Thema geworden. Es lohnt sich auch, immer wieder die Arbeit außerhalb der Waldorfbewegung zu beachten – als Beispiel sei hier nur das Forschungsprojekt „Bildung kommt ins Gleichgewicht“ genannt, das vom Hessischen Kultusministerium in Auftrag gegeben wurde. Entscheidend für unsere Arbeit ist es, ob das Konzept mit den menschenkundlichen Grundlagen in Einklang zu bringen ist. Mit welchem Schwerpunkt man dann arbeiten will, bleibt letztlich eine persönliche Entscheidung.
Für die Einzelarbeit kommen nicht nur verhaltensauffällige oder lernschwache Kinder in Betracht. Auch alle Schüler, bei denen eine Disharmonie vorliegt, profitieren von dieser Maßnahme. Wenn z.B. ein Kind wach aufnimmt und schnell reagiert, dabei aber der mittlere Bereich, der Bereich des Atmens und des Verstehens, zu kurz zu kommen scheint, oder wenn der Kopfpol so dominiert, dass der Willenspol zu schwach wirkt, ist Unterstützung sinnvoll. Mit dem Einzelunterricht betritt das Kind einen Raum, der, frei von Leistungsanforderung oder Erwartung, einzig von der Aufmerksamkeit geprägt ist, die der Lehrer dem Kind schenkt.

Stellvertretend für die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Einzelförderung möchte ich hier auf das Konzept der Extrastunde eingehen – nicht nur, weil sie den Schwerpunkt meiner Arbeit bildet, sondern vor allem, weil sie das einzige, schriftlich formulierte und veröffentlichte Konzept ist, welches aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis heraus entstanden ist.

In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts von der englischen Waldorflehrerin Audrey McAllen entwickelt, wird die Extrastunde bis heute in pädagogischen wie medizinischen Kreisen kontrovers diskutiert. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von Beschwerden über das – zugegebenermaßen – schwer verständliche Buch bis hin zu der Tatsache, dass sich die Extrastunde nur durch professionelle Anleitung, intensives Üben sowie das Studieren ihrer Grundlagen erringen lässt. Dann allerdings kann sie uns Rudolf Steiners Menschenkunde und viele Bereiche der Anthroposophie neu erschließen und uns nicht zuletzt ein vertieftes Verständnis für die Schwierigkeiten eröffnen, mit denen Kinder heute zu uns kommen.

Im Konzept der Extrastunde sind Bewegungsübungen ebenso enthalten wie Mal- und Zeichenübungen. Audrey McAllen entwickelte diese Übungen vornehmlich aus den Gedanken, die Rudolf Steiner in den ersten vier Vorträgen des Zyklus „Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie“ (GA115) geäußert hat. Aus diesem Grund stehen die Übungen immer wieder mit dem Thema der (unteren) Sinne sowie mit den übersinnlichen Strömungen, die den Leib des Menschen und der Erde aufbauen, in Verbindung.
Entscheidende Voraussetzung für die Frage, ob ein Kind Lerninhalte freudig aufnehmen und umsetzen kann, ist die abgeschlossene sensomotorische Entwicklung in den ersten sieben Lebensjahren. Durch unermüdliche Bewegung wird in dieser Zeit der Sinnes- und Bewegungsapparat geübt und damit die Ausreifung des Gehirns und des gesamten Nervensystems impulsiert. Stellvertretend für viele Entwicklungsschritte sei hier die vollständige Entwicklung der unteren Sinne genannt: mit dem Tastsinn erlebt das Kind gewissermaßen von innen seine eigene Grenze, mit einem gesunden Lebenssinn nimmt es die eigene Verfassung, die organische Befindlichkeit sowie Lebens- und Tagesrhythmen wahr. Eigenbewegungssinn und Gleichgewichtssinn ermöglichen in engem Zusammenwirken die aufrechte Körperhaltung und jegliche koordinierten Bewegungsabläufe. Zusammengenommen schaffen die vier unteren Sinne ein Zuhause-sein im eigenen Leib.

Wenn diese Entwicklung gesund und vollständig verlaufen ist und um das 7. Lebensjahr herum mit der Dominanzfindung zu einem Abschluss kommt, werden bisher körperlich gebundene Kräfte frei, um im Seelischen das Lernen zu ermöglichen.

Ist dies nicht der Fall, kann der Schauplatz des ersten Jahrsiebts noch nicht verlassen werden und braucht immer wieder Kräfte, um die unvollständige Entwicklung nachzuholen. Dieser Tatbestand stört das Kind bei der Aufnahme von Lerninhalten oder schwächt die in der Schule benötigten Fähigkeiten.
Hier setzt die Extrastunde an. In ihrer Diagnostik, der sogenannten ersten Extrastunde, erstellt sie ein umfassendes Bild der bisher vollzogenen Entwicklung mit der Frage, in welchen Bereichen das Kind Harmonisierung braucht.
Die dann anschließenden Übungen basieren auf dem Grundgedanken, dass die kindliche Individualität sich mit ihrem Körper und der Erde verbinden will. Beides – unser Körper wie auch die Erde – unterliegen strukturellen, urbildlichen Gesetzen, deren allgemeingültige Bewegungsmuster durch die Übungen in Beziehung gesetzt werden können.
Wenn wir in dieser Weise mit dem Kind arbeiten, sollte uns bewusst sein, dass die Übungen auf den „Strukturleib“ wirken – den Teil unseres Organismus, der Knochen, Muskeln und Nerven enthält und bei allen Menschen gleich ist. Zu ihm gehören auch archetypische Bewegungsmuster, die in früheren Zeiten in vielfältiger Weise im Alltag enthalten waren, heutzutage aber verloren gehen. Ein Beispiel dafür kann die Drehbewegung sein, durch die der Astralleib angeregt wird, sich mit dem physischen Leib zu verbinden. Angefangen von traditionellen Volkstänzen bis hin zu einfachen, alltäglichen Verrichtungen wie das Auswringen von Wäsche oder das Aufdrehen eines Wasserhahnes waren Drehbewegungen früher im täglichen Leben enthalten und damit auch – über die Nachahmung – Teil der kindlichen Entwicklung. Heute verschwinden diese Tätigkeiten aus dem Alltag, indem sie durch Maschinen oder Knopfdruck ersetzt werden.

In den Extrastundenübungen finden wir diese urbildlichen Bewegungen wieder. Kreise, Spiralen, Lemniskaten, Gerade und Krumme sind zu finden und werden in vielfältiger Weise dem Kind angeboten. Durch wiederholendes Üben erhält das Ich die Möglichkeit, die gesunden Muster in den Ätherleib einzuprägen. Unterstützend dabei wirken die in fast allen Übungen enthaltenen kurzen Pausen. Darüberhinaus wird die räumliche Orientierung angesprochen, die Auge-Hand-Koordination geübt, das eigene Körperempfinden gestärkt und – besonders wichtig – die Atmung angeregt.

Audrey McAllen empfiehlt, eine Einheit von Bewegungsübungen mit einer Malübung abzuschließen. Dabei werden die Kräfte, die durch die Bewegungsübungen aus dem Körper herausgelöst wurden, wieder zurückgeführt. (2)

Hier kann deutlich werden, dass die Arbeit mit dem Konzept der Extrastunde weder auf ein Behandeln von Symptomen abzielt noch auf ein forciertes Üben von Lerninhalten. Es soll nicht darum gehen, etwas Defizitäres oder Störendes an dem Kind zu „reparieren“, damit es sich problemlos in die gewünschte Ordnung einfügt. Vielmehr wollen die Übungen ausgleichend und harmonisierend wirken. Sie sind nicht auf schnelle Ergebnisse oder drastische Veränderungen ausgelegt, sondern basieren auf der Erfahrung und dem Vertrauen, dass die gesundenden Elemente, die das Kind durch die Begegnung mit der Extrastunde erhält, ihre Wirkung haben werden.

Was das Leben für die Kinder, die uns heute in der Schule begegnen, bereithält, ist uns noch verborgen. Aber wir wissen, dass sie sich dieses Leben gewählt haben, um sich hier und jetzt mit ihrem Leib zu verbinden. Menschenkundlich ausgerichteter Förderunterricht kann Impulse geben, Gesundendes anbieten und Wege begleiten. Das Kind wird davon aufnehmen, was es für seine Entwicklung nutzen und verwandeln kann.

Literatur:

Audrey McAllen  Die Extrastunde

Rudolf Steiner  Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung (GA 302)

4. Vortrag Stuttgart, 15. Juni 1921

 

Beate Schram

Lerntherapeutin in eigener Praxis, Reutlingen

freie Mitarbeiterin der Tübinger FWS
Dieser Artikel wurde in leicht gekürzter Form in der Ausgabe Mai 18 der Zeitschrift Erziehungskunst veröffentlicht.