Wovon spricht die menschliche Gestalt

von Alexander Schaumann

Mit der Gründung der »Firma für Anthroposophie« im Sommer 2003 war das Ziel verbunden, neue Formen der anthroposophischen Studien- und Zusammenarbeit zu entwickeln. (1) Was gedachte jeder von uns fünf Gründern in dieses Vorhaben einzubringen? Mir selbst schwebten Wahrnehmungsübungen vor. Seit einigen Jahren hatte ich mit einer entsprechenden Gruppe jeweils einen Nachmittag einem einzelnen Bild gewidmet. Was dabei an gemeinsamer Anschauung entstanden war, zählte ich zum Spannendsten, was ich in der Erwachsenenbildung erlebt hatte. Ließ sich an diese Erfahrung anschließen, ohne dafür ins Museum zu gehen?

An dieser Stelle hatte Anna-Katharina Dehmelt – angeregt von Rudolf Steiners Aufsatz Über die Bildnatur des Menschen (2) – die Idee, den Menschen selbst, und zwar den konkreten, lebendig anwesenden Menschen anzuschauen. Damit war geboren, was wir Menschenbetrachtung nannten und in den folgenden Jahren in vielen gemeinsamen Seminaren entwickelt haben.

Mit dieser Idee taucht aber gleich die Frage auf: Darf man das? Ist das nicht viel zu indiskret? Und wie soll es gehen, in Gegenwart des Betrachteten auch noch über ihn zu sprechen?

Aus der seither entstandenen Erfahrung kann man sagen, dass damit kein ernsthaftes Problem verbunden ist. Denn man lernt sprechen. Gerade, weil das »Modell« anwesend ist, wägt man seine Worte ab und entwickelt mit der Zeit eine Zugewandtheit, auf die alle Beteiligten und insbesondere »das Modell« selbst immer wieder mit großer Dankbarkeit zurückblicken. Man lernt aber auch in einer weiteren Hinsicht sprechen, nämlich beschreiben.

Das macht die eigentliche Schwierigkeit der Übung aus, ist aber auch ihr wichtigstes Arbeitsmittel. Denn im Suchen nach Worten schaut man noch einmal gründlicher hin. Das Beschreiben wird zu einem Nachplastizieren des Beobachteten, in das die anderen Teilnehmer unwillkürlich einsteigen, so dass ein gemeinsames Ringen einsetzt, das allmählich zu neuen Beobachtungen übergeht. So entwickelt sich ein Gespräch, in dem die eine Beobachtung die andere wachruft und durch das der betrachtete Mensch immer deutlicher in Erscheinung tritt.

Manchmal glaubt man zuerst, gar nichts zu sehen, und staunt dann über die Fülle dessen, was sich allmählich erschließt. Wie steht dieser Mensch? Welches Verhältnis haben seine Füße zum Boden, seine Hände zu den Schultern? Manche Füße scheinen sich im Boden fest zu verwurzeln und unverrückbar dazustehen, während andere ihn nur gerade eben zu berühren oder abzutasten scheinen. Hände können wie schwere Tropfen herunterhängen und dabei die Kraft sammeln, die durch die Schultern fließt, während andere zu raschem Zugriff an den Schultern aufgehängt erscheinen. Manche Gesamtgestalt scheint in einfache oder vielfältige Stufen gegliedert, manch andere dagegen von einem Strömen erfüllt, das keinen Eindruck von Stufen aufkommen lässt.

So entsteht ein Panorama vielfältigster Beobachtungen und Eindrücke – vom Antlitz ganz zu schweigen, durch das der betrachtete Mensch immer sichtbarer wird – sichtbar wird in der Art und Weise, in der er da ist und in der er seinen Leib ergreift.

Die Aufgabe des Kursleiters besteht darin, den Raum offen zu halten, in dem sich diese Beobachtungen entfalten können. Dazu gehört Zeit. Noch einmal in aller Ruhe das bereits Gesagte wiederholen, schafft Raum, in Ruhe neu zu schauen. Eigene Worte können bereichern, Fragen können anregen oder in der Fülle der Eindrücke den Blick in eine bestimmte Richtung lenken. Wichtig ist es, »durchzuhören« auf das, was der Beschreibende innerlich vor Augen hat. Das erlaubt, ein Wort anzubieten oder die anderen um Hilfe zu bitten. Gelingt es, in einen ruhigen Strom zu kommen, werden verschiedene Sichtweisen als Anregung und Augenöffner erlebt. Vielleicht ist es nötig, eine überraschende Äußerung noch einmal mit anderen Worten zu formulieren, damit sie verstanden werden kann. Wird dennoch ein Widerspruch empfunden, kann er bewusst stehengelassen werden, wobei die Beobachtungen oft schon bald wieder zusammenklingen.

Wichtig scheint mir auch die Offenheit des Anfangs, in dem man z.B. nach ein paar Minuten des stillen Betrachtens nur fragt: »Was fällt Ihnen auf?« Das nimmt die Unbefangenheit des ersten Eindrucks mit in das Gespräch. Genauso wichtig ist dann aber auch das genaue Nachfragen. Woran siehst du das? Wie ist die Form der Schulter? Beschreibe genau! – was erfahrungsgemäß an den gleichsam viel »ausgearbeiteteren« Formen des Gesichts leichter fällt. So kann man, um den Blick zu schärfen, ruhig einmal zehn Minuten auf die Beschreibung der Mundwinkel verwenden.

Regeln gibt es letztlich nur eine: keine

Wertungen! – die eigens auszusprechen meist nicht nötig ist.

Gegebenenfalls darf der Leiter aber auch beherzt unterbrechen, was letztlich das gegenseitige Vertrauen nur stärkt. Wie auf dem Jahrmarkt gilt auch bei der Menschenbetrachtung: »Dabei sein ist alles!« Denn, was sich vollzieht, ist ein Ereignis, an dem ich selbst beteiligt bin. Der Betrachtete tritt in Erscheinung, und ich selbst werde sehend. Der Betrachtete schält sich aus seinen Hüllen heraus, oder besser, sein äußerer Anblick wird durchscheinend für die Art seines Auftretens und Gegenwärtigseins.

Aber auch ich selbst verändere mich. Ich erwache aus einem gleichgültigen Bemerken zu einem differenzierten Gewahren und letztlich zu einem Mitgehenkönnen, das den Anderen erst aus der Verschlossenheit seines Anblicks herausholt. Es kommt zu einer Begegnung, die immer beide Seiten umfasst und von der nur individuell berichtet werden kann. Dennoch vermochten die bereits gemachten Andeutungen zu veranschaulichen, was an Fragen und Beobachtungen bei einer solchen Übung möglich ist.

Vom Blick auf die Vielfalt des Menschlichen lässt sich auch in einem allgemein gehaltenen Aufsatz erzählen. Das soll nun für verschiedene Varianten der Übung fortgesetzt werden.

Für das Erleben der individuellen Präsenz scheint es mir drei Gesichtspunkte zu geben: das Gehen, das Stehen und das Blicken.

Die bisherigen Bemerkungen bezogen sich auf das Stehen. Dabei ist es bemerkenswert, wie wichtig das freie Stehen ist. Bei unserem ersten Versuch erlaubte ich dem »Modell«, sich auf einer Stuhllehne abzustützen. Dadurch bleiben die Leibesformen ganz die Selben, sie wirken jedoch bis zu den Schultern hinauf »abgeschaltet«. Erst das tätige Ergreifen des Leibes, das sich in jedem Moment erneuert, macht die Präsenz des Menschen aus. Erst in dieser Aktualität wird die Geste dieses Ergreifens spürbar, beim Stehen allerdings vergleichsweise noch verhüllt, worauf ich weiter unten eingehen werde, völlig unverhüllt dagegen im Blick.

Gleich unser erster Versuch ließ uns für die Dimensionen des Blicks aufwachen. Da zeigte sich ein Blick aus großen, schimmernden Augen, der unermüdlich eine lichte Weite abzutasten schien, gefolgt von einem zweiten, der wie aus Brunnenschächten hervordrang. Fand der erste seinen Halt außen, in der lichten Sphäre, an die er hingegeben war, so schien der zweite von der sich im Inneren entfaltenden Aufrichtekraft auszugehen. Damit war bereits deutlich geworden, dass der Blick nichts Isoliertes ist, etwas auch noch Hinzukommendes, dass sich in ihm vielmehr die Kraft sammelt, mit der der Mensch seinen Leib ergreift, um sich dann von diesem zu lösen und frei in den Raum hinauszuströmen.

Für das Erleben des Blicks nicht minder real ist aber neben diesem äußeren Raum auch der innere, aus dem der Blick herkommt, ein nur imaginativ, aber doch meist sehr genau zu beschreibender Seelenraum mit seinen Färbungen und seiner Gestimmtheit und schließlich die Grenze zwischen beiden: die farbige Iris.

Blicke können einladen. Ich habe einmal einen Blick erlebt, der samtig dunkel zu sagen schien: Komm herein und fühle Dich wie zuhause, eine Einladung in freundliche Geborgenheit.

Andere Blicke führen in tiefere Räume, in dunkle oder golden durchleuchtete, in wärmere oder kühlere, die die Heimat des jeweiligen Menschen fühlen lassen. Oft glaubt man die Form dieser Räume beschreiben zu können: mehr zum Herzen herabreichend oder sich eher nach hinten oder in die Höhe ausdehnend.

Die bereits erwähnten Brunnenschächte bargen dagegen einen Blick, der aus der Tiefe nach außen drang. Auch in dieser Richtung gibt es die unterschiedlichsten Gesten. Blicke können sanft berühren oder eindringen, können gleiten oder springen, auf Einzelheiten gerichtet sein oder panoramaartig auf bildhafte Zusammenhänge. Sie können schwer oder leicht, nachdenklich oder heiter, sehnsuchtsvoll oder fordernd sein. Aber auch im Verhältnis zur Breite können sie sich unterscheiden. Sie können offen und unbefangen in die Welt hinausschauen oder gebündelt oder gar verengt – auch das in der mannigfaltigsten Abstufung. Eigenartig kann es schließlich berühren, wenn man bemerkt, dass die Grenzscheide zwischen den Räumen nicht immer durchlässig ist. Manchmal vermag sie offen in die Tiefe zu führen, sie kann auch selbst eine gewisse Tiefe besitzen, kann aber auch verschlossen sein wie eine milchig dichte Wand. Sie kann umgekehrt aber auch sternenhaft aufleuchten und nach außen strahlen, wie das bei blauen Augen manchmal der Fall ist.

Insgesamt scheint der Blick selbst wie ein Raum zu sein, in dem das Ich beständig unterwegs ist: mal draußen, mal drinnen oder wartend an der Grenze, um dann in bestimmten Momenten aufzuleuchten. Achtet man auf die feinen Reaktionen des Betrachteten auf das Gespräch, glaubt man allmählich, Gedanken lesen zu können, glaubt man in einem gemeinsamen Gedankenraum aufgehoben zu sein.

Auch das Gehen besitzt seine Aktualität, die es für die Menschenbetrachtung allerdings heikel macht, da es äußerst empfindlich auf die äußeren Bedingungen reagiert. Am besten lernt man deshalb das Gehen kennen, wenn es gelingt, das unbeobachtete Gehen von Passanten in den wenigen Sekunden zu erfassen, in denen sie an uns vorüberziehen. Da begegnet einem vielleicht eine untersetzte, breitschultrige Gestalt, die mit angewinkelten Armen und kurzen, energischen Schritten durch die Bahnhofshalle eilt, als wolle sie noch rechtzeitig ihre Pizza aus dem Ofen holen. Oder wir beobachten einen älteren, rundlichen Asiaten, der, leicht vorgebeugt, bei jedem Schritt ein wenig nach rechts oder links ausholend mit den Armen über seine Umgebung hinwegzustreichen und sie dabei zu segnen scheint. Oder wir bemerken eine schmale, hohe Figur, die, leicht zurückgebeugt, mit eiligen, linienhaft-unauffälligen Schritten sich durch die Menge bewegt, den Kopf »in den Wolken«, so dass man den Eindruck erhält, dass es von dort bis hinunter zu den Füßen unendlich weit sei.

Diese Gestalten, die sich mir gleich bei meinem ersten »Vorversuch« eingeprägt hatten, lassen erkennen, wie unterschiedlich das Bewegungsmoment lokalisiert sein kann: beim ersten in den Gliedern, der deutlich vor sich hat, wo er hin will, beim zweiten im Herzen, aus dessen, man möchte sagen Güte heraus er sich fortbewegt, und beim dritten »in den Wolken« oder besser nirgends, da seine Bewegungen wie einmal auf ein Gleis gesetzt automatisch abzulaufen schienen.

Von Nothard Rolfs erhielt ich den Tipp, nicht einzelne Menschen gehen zu lassen, sondern erst einmal die ganze Gruppe, um dann bis auf zwei sich die Einzelnen wieder setzen zu lassen. Damit kommt man über die Irritation des Angeschautwerdens hinweg, ohne jedoch an die Unbefangenheit des Wohinwollens heranzukommen. Die beiden Gehenden schwingen sich jeweils in einen bestimmten Gang ein, der aber immer noch so individuell ist, dass sich auch hier ein reiches Beobachtungsfeld ergibt – allerdings erst nachträglich, aus der Erinnerung, da es unmöglich zu sein scheint, während der Betrachtung des Gehens selbst zu sprechen. Aber auch auf dieser Grundlage schälen sich im Gespräch sehr präzise Beobachtungen heraus mit den entsprechenden Schlüsselfragen. Wie ist das Verhältnis zum Boden: in die Schwere fallend oder federnd, leicht berührend oder tastend, abrollend oder mit betontem Fersengang? Dazu die Frage nach dem Verhältnis zu Vorne und Hinten: drängend oder zögernd, sich dem Raum anvertrauend oder ihn wach musternd? Und schließlich die Frage nach dem Verhältnis zur Umgebung: Nimmt er sie mit – und wie? – oder bahnt er sich nur einen Weg?

Die Frage nach dem Verhältnis zu den Raumesrichtungen ist ein hilfreiches Mittel, sich in der Fülle der Eindrücke zurechtzufinden, neben der schon erwähnten Frage nach der Lokalisierung des Bewegungsimpulses. Unvergleichlich macht die Betrachtung des Gehens deutlich, dass der Mensch mit seinem Leib nicht identisch ist, sondern ihn bewohnt gleich einem Instrument, das ihm den Zugang zur Welt eröffnet.

Vielleicht liegt es an der unverstellten Aktualität von Blicken und Gehen, dass man als Betrachter relativ schnell an den Punkt gelangt, seine Gesichtpunkte in einen sinnvollen Zusammenhang bringen zu können.

Ganz anders ist das bei der Betrachtung des Leibes. Vor allem im Rückblick fällt mir auf, wie viele Beobachtungen sich zwar in ein Charakterbild des Betrachteten einfügten, als Gesichtspunkt jedoch unverstanden blieben. Das sage ich heute, nachdem wir uns die Frage gestellt haben, ob man nicht auch an eine Wahrnehmung von Ätherleib und Astralleib herankommen könne. Durch diese Fragen entwickelten wir einen Blick, durch den viele Beobachtungen erst in ihrem Zusammenhang verständlich wurden. Außerdem wurde klar, dass unsere bisherigen Versuche vornehmlich dem Erfassen des Ich gegolten hatten.

Es war nicht leicht, die richtige Frage zu finden. Es ging darum, den Blick so zu bündeln, dass er zuerst einmal der Realität des Ätherleibes (3) gewahr wurde. Als wir begannen, nach Strömungen zu fragen, kamen die Beobachtungen in Gang. Solche waren schon immer beschrieben worden. Bisher war ich jedoch bestrebt, mit meinen Fragen frei schwebende Eindrücke an die äußere Wahrnehmung anzubinden. Jetzt versuchten wir dagegen zu einem Strömungsgesamtbild zu kommen, was beim ersten Versuch allerdings zu verwirrenden Ergebnissen führte, in der Folge aber zu einem überraschenden Durchbruch.

Zuerst suchten wir nach einem Ausgangspunkt, den wir angesichts unsers ersten »Modells«, einer schlanken, auch von der Kleidung her plastisch gut sichtbaren Frau, schnell ausmachen konnten. Im Bauchbereich beschrieben wir ein sanftes Kreisen, das in den Oberschenkeln in ein energisches Strömen, einen kräftigen, volumenstarken Strahl überging, der, nach einer Zäsur im Kniebereich – eine individuelle Besonderheit – in den Füßen sich in ein sensibles Tasten verwandelte. Auch oberhalb der Brust, zwischen den Schultern, wurde etwas beobachtet, das sich aber nur schwer bestimmen ließ.

Bei unserem zweiten »Modell«, einem etwas älteren Mann, kam es dagegen zu völlig anderen Beobachtungen. Wieder suchten wir im Bauchbereich einzusetzen, gewahrten dort aber nur ein feines, freies Strömen, das wie in einem, von einem dichten Mantel umhüllten Innenraum auf- und abstieg, ohne im Geringsten mit irgendeiner Leibesempfindung in Zusammenhang zu stehen.

Wie waren diese unterschiedlichen Beobachtungen zu verstehen? Hingen diese mit den verschiedenen Personen zusammen oder vielleicht mit dem unterschiedlichen Geschlecht?

Diese Frage klärte sich, als ich mich von den Beobachtungen so weit gelöst hatte, dass angesichts von Männern auf dem Bahnsteig neue Wahrnehmungen auftreten konnten. Ich bemerkte nun einen Strom, der aus den Beinen ohne Halt im Bauchbereich aufstieg, um dann Schulter und Schädel in der typisch männlichen Weise von innen zu formen. Ohne es zu bemerken, hatten wir also, den Erfahrungen mit unserem ersten Modell folgend, nach absteigenden Strömen gesucht und waren damit auf eine Spur geraten, die offenbar mit Leibbildung nichts zu tun hatte.

Was ergibt sich, wenn man nun umgekehrt bei Frauen nach aufsteigenden Strömen fragt? Dann eröffnet sich der Blick auf einen zweiten Strom, der außerhalb des Leibes, ihn umhüllend aufsteigt, sich unter dem Rippenbogen jedoch nach innen wendet, um dann im Schlüsselbein / Brustbeinbereich wieder nach außen zu treten und dort unterschiedliche, immer nur für einen Moment zu erhaschende Formen zu bilden: eine nach vorne strömende Kaskade oder eine flache, empfängliche Schale mit all den unterschiedlichen Nuancen, die auch in der Ausstrahlung der Personen spürbar sind. Mit dieser Beobachtung glaubt man Liebreiz und Fürsorge des Weiblichen neu zu entdecken, und es ist verblüffend, wie der Umgang mit Röcken, Rüschen, Taille, Dekolleté und Schmuck diesen unsichtbaren Strom in der Sichtbarkeit nachzeichnet – wie auch umgekehrt der zuerst entdeckte mantelumschlossene Innenraum sich auf eine bestimmte Seite des Männlichen bezieht, der das Bild des wachenden undsinnenden Schäfers mit seinem Mantel neu sprechen lässt.

Sowohl frühere als auch in weiteren Übungen neu auftauchende Wahrnehmungen konnten vor diesem Hintergrund verständlich und jetzt auch gezielt weitergeführt werden.

Noch schwieriger war es schließlich, auch für den Astralleib4 eine Zugangsfrage zu finden. Wir sprachen schließlich von Gliederungscharakter. Die Gliederung des Menschen ist im Typus der menschlichen Gestalt verankert und insofern für alle Menschen gleich, besitzt beim Einzelnen jedoch ihre besonderen Schwerpunkte und Proportionierungen. Anders als bei der Frage nach dem Ätherleib besteht hier aber die Schwierigkeit, sich aus dem Bann der gegenständlichen Wahrnehmung zu befreien. Mit dem Gewahren von Strömungen befindet sich der Wahrnehmende bereits in einer zwar leibnahen, doch deutlich über die äußere Wahrnehmung hinausführenden Welt.

Der Gliederungscharakter wird dagegen an der äußeren Gestalt abgelesen. Kann er nicht nur abgelesen, sondern auch erlebt werden? Hier hilft die Übersetzung in musikalische Empfindungen. Auch in dieser Frage half uns der Vergleich zweier »Modelle«, diesmal zweier Frauen, bei denen das Verhältnis zwischen Rumpf und Gliedern ganz unterschiedlich war.

Bei unserem ersten dominierte der Eindruck einer rundlich warmen Mitte, von der aus sich die Glieder freundlich der Welt entgegenstreckten. Auch seine Physiognomie konnte als beweglich-zugewandt beschrieben werden. Bei unserem zweiten Modell hatten die Glieder dagegen einen säulenhaft aufgerichteten Charakter, die vom Rumpf lediglich in Zusammenhang gehalten wurden, und das Antlitz hatte eine runde Abgeschlossenheit, in die eine feine Physiognomie gleich einem flachen Relief zart hineingezeichnet war.

Zudem hatten wir uns von ihm seinen morgendlichen Weg beschreiben lassen, um noch ein zweites Feld von Eindrücken zu gewinnen. Dabei ertönte eine helle, ornamental umschreibende Stimme, die zugleich in großen Bögen die wichtigsten Etappen in Form einzelner Worte hervorhob. Als wir nun dieses zweite Modell versuchten mittels musikalischer Bilder zu beschreiben, wurde überraschend einhellig das Instrument der Orgel genannt mit einem tiefen basso continuo, der von einem auf und abwebenden Diskant umspielt wurde. Versuchte man sich nun, in dieses musikalische Bild zu vertiefen und dabei alle Erinnerungen an die äußere Gestalt abzuwerfen, konnte der Eindruck eines Menschen entstehen, der in unverwechselbarem Ernst und zugleich beweglicher Wachheit und in einer tiefen Verbundenheit mit den Grundgegebenheiten des Daseins eine Art vorirdischen Raum durchschritt. Das war nicht das Wesen des Ich mit seiner schöpferischen Aktualität und auch nicht die zum Allgemeintypischen neigende Strömungsgestalt des Ätherleibes, sondern seine spezifische Weise der Weltverbundenheit, die hier wie in ihrem Urzustand vor die erlebende Seele trat.

Die Gespräche anlässlich der Menschenbetrachtungen sind durchwegs so positiv, dass man sich fragen muss, ob hier Konfliktscheu und Schönreden eine Rolle spielen. Es handelt sich aber um etwas anderes. Der Zugang geht über die äußere Gestalt, so dass alle kleinlichen Verstrickungen des Alltags abfallen und man den Eindruck erhält, der betrachtete Mensch trete in Erscheinung »wie er gemeint ist«. Es gelingt eine Würdigung seines Wesens, die eine große soziale Potenz in sich trägt, zumal für die Betrachter Ähnliches gilt. Denn auch für sie bedeutet die behutsame Zuwendung zur äußeren Gestalt eine Reinigung ihrer Wahrnehmung, die oft noch über längere Zeit spürbar bleibt.

Neben dieser Art des Zugangs spielt aber noch ein anderes Element eine Rolle, auf das ich durch eine Stelle bei Rudolf Steiner aufmerksam wurde: »Alle Kunst hat etwas in sich, was geeignet ist, zu tieferer, konkreterer Menschenerkenntnis zu führen … Wer Kunst wirklich innerlich erlebt, … der durchdringt sich mit etwas, was ihn befähigt, den Menschen … nach der Richtung der menschlichen Bildnatur aufzufassen.« (5) Die künstlerische Anschauung weckt die Liebe zur äußeren Gestalt, weckt aber auch den Sinn für die Kräfte, die in dieser Gestalt leben und sie hervorgebracht haben. Mit dieser Möglichkeit lässt sich jedoch unterschiedlich umgehen.

1924, sechs Jahre nach den zitierten Worten, macht Steiner selbst einen Versuch, indem er Medizinstudenten eine einfache plastische Übung empfiehlt, deren Ergebnisse, über Jahrzehnte weiter verfolgt, von Armin J. Husemann in dem Buch: Der musikalische Bau des Menschen (6) veröffentlicht wurden. Dabei entwickelt er imaginative Modelle, die er auf die Gestalt des Menschen, wie sie in anatomischen Zeichnungen greifbar ist, anwendet, und kommt dabei zu Anschauungen, die in ihrer konkreten Differenziertheit begeisternd sind.

Die Menschenbetrachtung geht dagegen von der lebendigen Gegenwart des Menschen und seiner Wahrnehmung aus. Lässt sich zwischen diesen Herangehensweisen eine Brücke schlagen?

Über den Fragen der Anwendung des künstlerischen Sinns möchte ich aber nicht die Künstler vergessen, die mir bei unseren Versuchen besonders geholfen haben. An erster Stelle ist da Alberto Giacometti zu nennen mit seinem Interesse für Gehen, Stehen und Blicken und die leibdurchdringende Präsenz des Ich. Hinzu kommt sein Sinn für die männlich-weibliche Strömungsgestalt des Menschen, durch den er für mich noch einmal neu aktuell wurde.

Ein ganz anders gearteter Lehrer Menschenbetrachtung und Kunst für das Begreifen des Menschen als Strömungsgestalt ist J. B. Bernini. Schon als ich bei Husemann über die Veränderung der Gestaltungsströme bei Jungen und Mädchen in der Pubertät las, fiel mir auf, dass sich diese bei ihm in all ihren Komplikationen dargestellt finden.

Für die dreigliedrige Gestalt des Menschen nach Haupt, Brust und Gliedern und ihren Zusammenhang mit dem Weltenbau hat schließlich Raffael die unübertroffenen Urbilder geschaffen.

Die Vertrautheit mit solchen Künstlern schärft den Sinn für bestimmte Aspekte des Menschseins, der sich dann für das Verständnis des einzelnen, konkreten Menschen fruchtbar machen lässt.

Autorennotiz:

Alexander Schaumann, geb. 1953, Malerei- und Kunstgeschichtsstudium an der Staatl. Kunstakademie Düsseldorf bei Gerhard Richter, anschließend Fernstudium bei Gerard Wagner/Dornach.

Arbeitet als freischaffender Künstler und Dozent in der Erwachsenenbildung in NRW. – Kontakt: alexander.schaumann@gmx.de.

Dieser Artikel von Alexander Schaumann wurde in der Zeitschrift die Drei 8-9/2008 veröffentlicht

1 Die Firma für Anthroposophie wurde gegründet von Anna-Katharina Dehmelt, Sebastian Gronbach, Jelle van der Meulen, Alexander Schaumann und Michael Schmock. Siehe dazu www.Firmafuer-Anthroposophie.de.

2 Vgl. Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze (GA 26). Gehen, Stehen, Blicken

3 Ätherleib nennt Rudolf Steiner einen übersinnlich wahrnehmbaren Kräfteleib, der die physischen Stoffe in lebendigem Zusammenhang hält und zugleich den Träger des Seelenlebens bildet, nicht jedoch dieses selbst.

4 Astralleib nennt Rudolf Steiner den Leib, der die Kräfte des Seelenlebens und dessen spezifische Veranlagung enthält, deren aktuelle Formung dagegen vom Ich ausgeht. Wovon spricht die menschliche Gestalt?

5 Rudolf Steiner: Geschichtliche Symptomatologie (GA 185), 5. Vortrag, S. 113.

6 Armin J. Husemann: Der musikalische Bau des Menschen. Entwurf einer plastisch-musikalischen Menschenkunde, Stuttgart 1989.