Extrastunde in Taiwan

von Beate Schram

Die „Extrastunde“ ist ein Konzept, das in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts von Audrey McAllen, damals Waldorflehrerin in Gloucester (GB), entwickelt wurde. Es ist das einzige umfassende pädagogische Förderkonzept, das auf den Erkenntnissen der Anthroposophie basiert. Aus ihnen entwickelte A.McAllen Übungen zur Bewegungsförderung und Sinnesschulung, die sowohl im Einzelunterricht wie innerhalb von Klassenverbänden angewendet werden.

Im Sommer 2010 reiste Ernst Westermeier, damals selbstständiger Förderlehrer in Schloss Hamborn, zum ersten Mal nach Taiwan, um Kurse zum Thema „Extrastunde“ (A.McAllen) zu geben. Ein weiterer Kurs folgte im Sommer 2012, kurz vor seinem frühen Tod im September 2012. Durch seine Arbeit dort war ein Keim gelegt, der, seinem Wunsch entsprechend, weiter gepflegt werden sollte.

Ein kleiner Bericht über die Extrastundenkurse im Sommer 2015

Shan Mei Zhen Kindergarten, Taichung: Verglichen mit der Stadt, die im Wesentlichen aus dichtstehenden Hochhäusern, Straßen, ständig fließendem Verkehr und brütender Hitze zu bestehen scheint, ist das Kindergartengelände eine Oase. Vor dem Passanten, der von einer dieser großen Straßen kommt, tut sich ein liebevoll gestaltetes Gelände auf. Der „Gesang“ der Grillen lässt den Verkehrslärm vergessen. Fünf Gruppen des Kindergartens, demnächst drei Klassen der neugegründeten Schule und eine Hortgruppe befinden sich auf diesem Gelände.

In Taichung ( 2,7 Mio. Einwohner) gibt es sieben mehrgruppige Waldorfkindergärten und sechs Waldorfschulen, davon zwei Schulen mit Klassen 1-11, die anderen gehen auf jüngere Initiativen zurück.

Dies ist unser dritter Besuch in Taichung und vieles ist schon vertraut – von der Hitze über die Gerüche, dem Klang der chinesischen Sprache bis hin zu so manchem bekannten Gesicht unter den MitarbeiterInnen und KursteilnehmerInnen. Die 40 TeilnehmerInnen des Anfängerkurses „Extrastunde“ waren, wie jedes Jahr, zusammengesetzt aus ErzieherInnen, LehrerInnen und Eltern. Damit finden wir Verhältnisse, die wir uns in Deutschland oft wünschen: mit den Erzieherinnen über die Entwicklung des Kindes im 1. Jahrsiebt reden zu können, die Eltern einzubeziehen und ihnen zu helfen, im häuslichen Bereich ihren Teil beizutragen, und das Bewusstsein der LehrerInnen zu wecken für die Auswirkungen einer gesunden Kleinkindentwicklung auf die Lernfähigkeit des Kindes.

Eine Freude war es zu erleben, wie alle Beteiligten, bunt gemischt, in der täglichen Gruppenarbeit eifrig diskutierend zusammenkamen und anschließend ihre Fragen formulierten. In diesem Jahr fanden sich zum ersten Mal zehn Chinesinnen unter den TeilnehmerInnen, die nochmals neue Fragen und Impulse aus ihrem Kulturkreis beitrugen. Ein Bewusstsein dafür, dass wir uns bemühen sollten, den heutigen Kindern und ihren besonderen Fragestellungen zu begegnen, war deutlich zu spüren.

Wie schon in den vorangegangenen Jahren wuchsen auch in diesem Sommer die TeilnehmerInnen rasch zu einer lebhaften und eifrig arbeitenden Gruppe zusammen. Konzentriert und  aufnahmebereit war die Stimmung während der Vorträge zur Menschenkunde, still und andächtig bei den Malübungen, außerordentlich fröhlich und kreativ bei den Bewegungsübungen, wo die Begegnung mit den eigenen Unzulänglichkeiten oft mit viel Gelächter begleitet wurde.

Nach insgesamt neun Kurstagen (Anfänger-/Fortgeschrittene-/weiterführender Kurs) hatten sich die TeilnehmerInnen auf einen guten Weg in die „Tiefen“ der Extrastunde begeben. Vieles blieb dabei offen, unbeantwortet, angerissen und so nahm jede(r) ein Päckchen Hausaufgaben mit in den Alltag. Aber nicht nur die TeilnehmerInnen haben gelernt – auch wir wurden reich beschenkt durch diese Tage. Allein die Erfahrung, nicht in der Landessprache kommunizieren zu können und immer auf Übersetzung (engl.-chin.) angewiesen zu sein, machte uns sensibler für die Mimik und Gestik der Menschen; völlig andere Wahrnehmungen sind möglich und nötig, wenn die Sprache als Kommunikationsmittel nicht unmittelbar zur Verfügung steht.

Auch im Bereich der Diagnostik bzw. der Übungen konnten wir viel lernen. Wenn wir in unserer westlichen Kultur so selbstverständlich von der Schreibrichtung von links nach rechts ausgehen und sich darauf auch manche diagnostischen Gesichtspunkte der Extrastunde beziehen, so stellen sich ganz neue Fragen in der chinesischen Kultur. Hier wurde zwar offiziell dieselbe Schreibrichtung verordnet, in den Menschen lebt aber durchaus noch die „alte“ Schreibrichtung von rechts nach links bzw. von oben nach unten. Dadurch entsteht eine ganz andere Offenheit und gedankliche Beweglichkeit, die uns und die Teilnehmer gelegentlich vor die Frage stellte, ob manche Übungsanweisung, möglicherweise auch manche diagnostische Auswertung in diesem Kulturkreis neu gegriffen werden muss. Mit diesen Fragen wollen wir uns bis zum Kurs im nächsten Somer beschäftigen.

Die abschließenden Fragen und Rückmeldungen zeigten, dass in den Kurstagen viel innere Bewegung entstanden ist. Es kann dabei nicht darum gehen, Extrastunde „beizubringen“. Viel mehr ist es unser Anliegen, mit Hilfe der tiefen anthroposophischen Hintergründe, auf denen die Extrastunde basiert, ein Bewusstsein zu wecken für die Größe und Tiefe der kindlichen Entwicklung, für die Tragweite derselben für das weitere Leben und Lernen des Kindes und für die Verantwortung derer, die im Umkreis des Kindes leben.

So zeigte sich in der Abschlussrunde große Dankbarkeit für das gegenseitige Lernen und für reiche Begegnungen im gemeinsamen Anliegen, den Kindern von heute gerecht zu werden.

Wir freuen uns darauf, im nächsten Jahr gemeinsam mit unseren taiwanesischen KollegInnen an diesen Themen weiterzuarbeiten.

Beate Schram (Lerntherapeutin)

Margarete Westermeier (Sonderpädagogin)

Ergänzende Literatur: Ernst Westermeier Extrastundenkurs Taiwan 2012 ISBN 978-3-89979-213-3